Organoidforschung
Organoide sind dreidimensionale Zellverbände, die bestimmten Organen in Hinblick auf ihre spezifischen Funktionen, ihre Gestalt und typischerweise enthaltenen Zelltypen ähneln und aus Stammzellen hergestellt werden. Sie bergen großes Potenzial für Wissenschaft und Forschung, werfen aber auch wissenschaftliche, philosophische, ethische und juristische Fragen auf.
Die Bandbreite an verfügbaren Organoiden wächst rapide an und umfasst u. a. Nachbildungen von Gehirn, Darm, Niere, Magen, Pankreas, Lunge, Leber, Prostata, Speiseröhre, Gallenblase und des weiblichen Reproduktionstraktes sowie des Embryos (sogenannte Embryoide). Momentan dienen Organoide in erster Linie der Forschung als Modellsysteme für unterschiedliche Organe, um deren Entwicklung, Funktionsweise und Erkrankungen besser untersuchen zu können. Neben ihrem Nutzen in der Grundlagenforschung, werden sie zur Medikamentenentwicklung und für Toxizitätstests eingesetzt. In den Niederlanden sind Organoide als patienteneigene Organoide von Mukoviszidose-Patientinnen und -Patienten für die Vortestung von Medikamenten auch bereits Teil des Gesundheitssystems. Sie werfen aber auch Fragen auf, die bislang in Deutschland wenig diskutiert werden. Hierzu gehören bspw. Fragen nach der Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse an Organoiden auf entsprechende Organe in vivo oder ob es künftig möglich werden könnte, dem Mangel an Spenderorganen durch Organersatz in Form von Organoiden zu begegnen. Dieser Vision stehen jedoch noch große technische Hürden und ungelöste wissenschaftliche Fragen im Wege. Ethisch umstritten ist bspw. auch, wie eine etwaige Bewusstseinsentwicklung der immer komplexer werdenden Hirnorganoide zu beurteilen wäre, wobei es zum einen um Fragen der Messbarkeit mentaler und kognitiver Prozesse, zum anderen um mögliche Schutzansprüche geht. Mit der Weiterentwicklung von immer komplexeren Organoiden und Multi-Organoid-Systemen wird zudem die Hoffnung verbunden, dass ihr Einsatz in der Medikamentenforschung und bei Toxizitätstests zur Reduktion von Tierversuchen beitragen könnte.
Mehr zum Thema in unseren Publikationen:
- Boris Fehse, Ferdinand Hucho, Sina Bartfeld, Stephan Clemens, Tobias J. Erb, Heiner Fangerau, Jürgen Hampel, Martin Korte, Lilian Marx-Stölting, Stefan Mundlos, Angela Osterheider, Anja Pichl, Jens Reich, Hannah Schickl, Silke Schicktanz, Jochen Taupitz, Jörn Walter, Eva C. Winkler und Martin Zenke (Hg.): Fünfter Gentechnologiebericht. Sachstand und Perspektiven für Forschung und Anwendung. Baden-Baden (Nomos). 1. Auflage 2021.
- Sina Bartfeld, Hannah Schickl, Cantas Alev, Bon-Kyoung Koo, Anja Pichl, Angela Osterheider und Lilian Marx-Stölting (Hg.): Organoide. Ihre Bedeutung für Forschung, Medizin und Gesellschaft. Baden-Baden (Nomos). 1. Auflage 2020.
- IAG Gentechnologiebericht und German Stem Cell Network (Hg.): Organoide – von der Stammzelle zur zukunftsweisenden Technologie/Organoids – from stem cells to future technologies. Berlin 2020.
- Sina Bartfeld, Cantas Alev und Bon-Kyoung Koo (Ed.): Special Issue „3D Organoids“. Journal of Molecular Medicine (2021).
Veranstaltung:
- Online-Veranstaltung: „Brain in a dish“ – Was genau sind Organoide? Aktuelle Entwicklungen, Potenziale und Herausforderungen der Forschung (2020)
Galerie Organoide
Organoide: Vielfalt und Komplexität. Mithilfe von Stammzellen lassen sich für nahezu jedes menschliche Organ Organoide herstellen. Die wenige Millimeter großen 3D-Zellgebilde sind faszinierend komplex. Die Abbildung zeigt keine realen Größenverhältnisse.
Humane Hirnorganoide. Es gibt verschiedene Hirnorganoide, die aus pluripotenten Stammzellen hergestellt werden und jeweils unterschiedliche Regionen des Gehirns nachbilden. Insbesondere bei diesem Organoidtyp werden auch ethische und rechtliche Fragen aufgeworfen. Könnten etwa fortgeschrittene Hirnorganoide eines Tages Bewusstsein entwickeln? Woran würde man dies erkennen und ließen sich daraus ggf. auch Schutzansprüche ableiten?
Fluoreszierend eingefärbtes Netzhautorganoid. Ein 1 Millimeter großes Netzhautorganoid ermöglicht die Gewinnung von bis zu 300.000 Photorezeptorzellen. Diese werden in Transplantationsstudien an blinden Mäusen eingesetzt um Behandlungmöglichkeiten von Netzhautstörungen beim Menschen zu entwickeln. Zudem können Netzhautorganoide auf einem Objektträger ausgesät werden, der die physiologischen Verhältnisse des menschlichen Auges nachstellt, bspw. durch künstliche Gefäße und Immunzellen. Diese sog. Retina-on-a-Chip-Modelle ermöglichen die Untersuchung von Arzneimitteln auf Nebenwirkungen und könnten künftig Tiermodelle ergänzen.
Humane Magenorganoide. An diesen Modellen lassen sich bspw. Infektionen und Krebserkrankungen des Magens im Labor nachbilden und Krankheitsabläufe untersuchen sowie mögliche Arzneimittel testen. Es besteht die Hoffnung, dass sich durch den Einsatz von Organoiden in der Forschung und bei Toxizitätstests die Zahl der Tierversuche in Zukunft verringern und zugleich die Verlässlichkeit der Forschungsergebnisse erhöhen lässt.
Humanes Darmorganoid. Der Darm enthält, wie auch der Magen, eine Vielzahl an Stammzellen, die die ständige Regeneration des Gewebes ermöglichen. Aus diesen adulten Stammzellen werden seit einigen Jahren Organoide hergestellt, darunter auch patientenspezifische Organoide, die in speziellen Organoidbiobanken gelagert werden. Diese patientenspezifischen Organoide lassen sich u. a. zur Testung von auf den Patienten/die Patientin abgestimmten Medikamenten verwenden, was einen Schritt in Richtung personalisierte Medizin bspw. in der Krebstherapie ermöglichen könnte.
Humanes Pankreasorganoid. Im Gegensatz zu Magen- und Darmorganoiden werden Pankreasorganoide auf Basis pluripotenter Stammzellen hergestellt. Dieses Pankreasorganoid ist im Querschnitt dargestellt, rot eingefärbt sind die Zellkerne der Pankreas-Vorläuferzellen erkennbar. Ein wichtiges Ziel der Forschung an Pankreasorganoiden ist, die molekularen Mechanismen, die in die Entstehung insulinproduzierender Betazellen involviert sind, besser zu verstehen und idealerweise gezielt zu beeinflussen. Wenn sich diese aus Vorläuferzellen gezielt differenzieren ließen, könnten langfristig Diabetespatienten/-patientinnen durch eine solche Zellersatztherapie geheilt werden, so die Vision der Forschenden.
Anwendungsmöglichkeiten patientenspezifischer Organoide in der Krebsforschung. Hierzu zählt die Untersuchung verschiedener Aspekte der Tumorentstehung und Metastasenbildung, darunter die Rolle von Krankheitserregern, Genen und der zellulären Mikroumgebung. Weitere Einsatzformen umfassen den Aufbau von Biobanken, Arzneimittelscreenings sowie die Entwicklung personalisierter Krebstherapien. Auch die Erforschung der Rolle des Immunsystems in der Krebsentstehung und -entwicklung ist durch den Einbau von Immunzellen in Organoide möglich und wird im sich rasch entwickelnden Bereich der Immunonkologie verfolgt.
Werkzeuge der Pandemieforschung. Organoide ermöglichen die Modellierung von Infektionen einzelner Organe und helfen dadurch zu verstehen, was Viren wie SARS-CoV-2 oder Zika im Körper auslösen. Gegenwärtig werden insbesondere Lungen-, Nieren-, Leber-, Pankreas- und Darmorganoide zur Erforschung der Krankheitsabläufe bei COVID-19 eingesetzt sowie für das Screening bereits vorhandener Medikamente auf Wirksamkeit gegen Sars-Cov-2.
Zukunftsvision: Human-on-a-Chip. Über Mikrokanäle auf einem Chip lassen sich immer mehr Organoidsysteme miteinander verknüpfen. Auf diese Weise kann das Zusammenspiel verschiedener Organe bei Multiorganerkrankungen untersucht werden. So hergestellte Multi-Organoid-Chips könnten eines Tages für Wirkstofftests in der Pharmaindustrie und möglicherweise auch für klinische Studien eingesetzt werden oder als Stellvertreter einer Patientin oder eines Patienten helfen, die beste Wirkstoffkombination für eine individuelle Therapie ausfindig zu machen. Die Verlässlichkeit der Ergebnisse entsprechender Untersuchungen an Multi-Organoidsystemen und ihre Übertragbarkeit auf Patienten und Patientinnen muss jedoch zuvor validiert werden. Die Abbildung ist stark vereinfacht und eine vollständige Repräsentation eines Menschen auf einem Chip ist auf absehbare Zeit nicht möglich.
Wir danken dem German Stem Cell Network (GSCN) und den Urheber/-innen für die Bereitstellung der Bilder.